Virtuelle Führung – Führen in der digitalisierten Welt

Führung über Distanz – gerne auch virtuelle Führung genannt – wird immer bedeutender. Für Führungskräfte und Mitarbeitende in globalen Konzernen wie bspw. IBM, SAP, NEC oder BASF ist es schon seit einigen Jahren Alltagsgeschäft, in Teams zusammen zu arbeiten, die in unterschiedlichen Ländern dieser Erde beheimatet sind. Was alltäglich ist, heißt aber nicht, dass es leichtfällt.

Welche Chancen und Herausforderungen bringen die Zusammenarbeit in virtuellen Teams mit sich und welche Fähigkeiten und Methoden für Führungskräfte hierzu sind unabdingbar? Wieviel „Mensch“ steckt noch in einer digitalen Führungsbeziehung und was braucht es, um ein kompetenter „Distance Leader“ zu werden?

Virtuelle Teams auf dem Vormarsch – Chancen und Herausforderungen
Virtuelle Teams sind Gruppen von Mitarbeitenden, die nicht lokal und in physischem Kontakt zusammenarbeiten, sondern räumlich getrennt kooperieren. Das Team ist demnach „virtuell“, da es nur mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien zusammenarbeiten kann. Wie andere Teams auch, kann eine solche Gruppe nur auf Projektbasis, genauso aber auch dauerhaft organisiert sein. Aus dieser Konstellation ergeben sich Vor- und Nachteile:

Die Vorteile:
– Agilität, Flexibilität und Reaktionsfähigkeit
– Hohes Selbsführungslevel
– Orts- und Zeitunabhängigkeit
– Diversität
– Großer Ressourcenpool
– Expertenvernetzung
– Kunden- und Marktnähe und damit gezielte Dienstleistungen
– Hohe Kreativität
– Personelle Einsparungen
– Bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie

Die Nachteile:
– Fehlender direkter Kontakt
(Isolation, geringe Identifikation, Vertrauenskrisen, kulturelle Missverständnisse, unbemerkte Konflikteskalation)
– Hoher organisatorischer und koordinativer Aufwand
(Redundanzen, unklare Strukturen, Prozesse, Rollen, Aufgabenverteilung, erhöhter Kommunikationsbedarf, Sprachbarrieren, erschwerte Beurteilungs- und Feedbackprozesse)
– Technologische Abhängigkeit
(Fehlerhafte Technik, kommunikative Fehlinterpretationen, fehlende Mimik und Gestik)

Zehn Faktoren für den Erfolg virtueller Teams
Wie kann ein virtuelles Team sein ganzes Potenzial entfalten? Hierzu haben wir zehn Erfolgsfaktoren herausgearbeitet, die ein starkes virtuelles Team auszeichnen. Die Erfolgsfaktoren (s. unten) mögen offensichtlich erscheinen (und gelten überwiegend auch für „normale“ Teams), doch die Realität zeigt leider, dass die Erfolgsquoten virtueller Teams äußerst gering sind. Zwischen 70 und 90 Prozent aller virtueller Teams scheitern (Müller, 2013). Die Zahlen legen nahe, wie wichtig es ist, die grundlegenden Erfolgsfaktoren eines virtuellen Teams zu definieren. Die folgende Aufzählung bildet aus unserer Erfahrung eine Checkliste, die Ihnen die Führung Ihres virtuellen Teams erleichtern sollte:

1. Nutzung moderner Technologien der Zusammenarbeit (Slack, Zenkit, Skype, Beekeeper, …)
2. Transparenter Workflow
3. Nutzung agiler Projektmanagementmethoden, wie z.B. Scrum, Kanban, die auch im virtuellen Rahmen umsetzbar sind
4. Sehr gute Fremdsprachenkentnisse
5. Schriftliche Festlegung gemeinsamer Regeln, Normen und Routinen
6. Klare Rollenverteilung, Prioritätensetzung und Aufgabendefinition
7. Pflege persönlicher Kontakte
8. Klares und effektive „Kick-Off-Meeting“
9. Trainings
10. Offener und freier Wissensaustausch

Besonderheiten virtueller Führung
Was sind die Erfolgsfaktoren und Charakteristika in der Führung virtueller Teams? Virtuelle Führung ist grundlegend anders als direkte persönliche Führung. In der virtuellen Führung entfallen wichtige Ebenen der Kommunikation. Mimik und Gestik können selbst in einer Videokonferenz nicht authentisch übermittelt werden. Der digitalen Führungskraft fehlt es an nonverbalen Hinweisen und die Beziehungsebene der Kommunikation entfällt fast gänzlich. Kommunikation wird „eindimensional“ und erschwert den Aufbau einer authentischen Führungsbeziehung, das gegenseitige Verstehen sowie Einblicke in das Gefühlsleben der Teammitglieder/-innen. Die Anforderungen an die Führungskraft steigen durch die digitale Führungsbeziehung enorm.

Führungskompetenzen eines effektiven „Distance Leaders“
Was zeichnet einen guten „Distance Leader“ aus? Laut einer Umfrage der Hay Group aus dem Jahr 2013 ist der bedeutendste Führungsfaktor der „Aufbau und die Aufrechterhaltung von Vertrauen zwischen den Teammitgliedern durch den Teamleiter“ (Akin & Rumpf, 2013). Gerade der Aufbau von Vertrauen stellt gleichzeitig die größte Schwierigkeit in einem virtuellen Team dar. Vertrauensbereitschaft und -gestaltung wird damit zur Kernaufgabe einer virtuellen Führungskraft. Zusätzlich verlangt der höhere Koordinationsaufwand nach fortgeschrittenen Kenntnissen und Erfahrung im Projektmanagement. Virtuelle Führungskräfte sollten exzellent kommunizieren können, klar und eindeutig in mehreren Sprachen, kulturell bewusst, Teammitglieder anleiten, koordinieren und anhören. In einem digitalen Führungsverhältnis wird außerdem die Dienstleistungsbereitschaft des Führenden wichtig: Das Team proaktiv zu unterstützen, einzelne Mitglieder und deren Aufgaben zu betreuen, den Rücken freihalten und mit den richtigen Ressourcen und einer strukturierten Organisation zu versorgen. Sensibilität und Emotionale Intelligenz sind essentiell, um auch über Distanz die Schwingungen im Team zu verstehen, zu analysieren und im gemeinsamen Miteinander Beziehungen auf Augenhöhe und eine wertschätzende Atmosphäre zu schaffen. Schließlich ist technisches Know-How von Vorteil, denn nur wer sicher und leicht die Methoden und Werkzeuge moderner Informations- und Kommunikationstechnologien navigieren und nutzen kann, kann letztlich auch ein virtuelles Projekt managen.
 
Der „Mensch“ als Mittelpunkt digitaler Führungsbeziehungen
Die Kompetenzliste zeigt: Zum einen benötigen virtuelle Führungskräfte „harte“ Kompetenzen, wie Projektmanagement und technisches Know-How. In diesen Kompetenzen spiegelt sich die effektive Nutzung der gegebenen Tools und Technologien wider. Zum anderen zeichnen sich virtuell Führende durch ihre zwischenmenschlichen und „weichen“ Kompetenzen aus. Klare Kommunikation, Dienstleistungsbereitschaft, Vertrauensbereitschaft und Sensibilität sind Kompetenzen, die immer wichtig sind, aber gerade in einem digitalen Führungskontext zur Geltung kommen. Obwohl virtuelle Führung aufgrund klarer Regeln, effektiver Koordination und transparenter Prozessabläufe nach reinem Management klingt, steht letztlich der Mensch und die persönlichen Beziehungen im Mittelpunkt.

Virtuelle Führung ist ein Mix aus Technologiemanagement und Menschenführung. Die Technik ist Medium und Hilfsmittel, kein Selbstzweck. Sie sollte sinnvoll gemanagt werden, um Zusammenarbeit zu ermöglichen. In der Führung von Menschen sind Vertrauen, Sensibilität und Fürsorge tragende Säulen. Statt Kontrolle empfiehlt sich Unterstützung, statt Anweisung gemeinsame Zielvorgaben. Die Abgabe von Kontrolle und die Ermöglichung von Selbstführung sind Kernfaktoren virtueller Führung. Versteht man den Menschen als Mittelpunkt digitaler Führungsbeziehungen und die Technologie als Mittel der Menschenführung, so werden die Erfolgsquoten virtueller Teams steigen und die Potenziale der digitalen Zusammenarbeit besser entfaltet werden können.

Ingo Kallenbach, Reflect | Strategische Personalentwicklung
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